Es hat die Wirkung eines verheerenden Gerichtsurteils: „Der Bus kommt.“ Unmittelbar werden die bereits geröteten Augen wieder feucht, die Schülerinnen und Schüler fallen sich um den Hals und versprechen sich, Kontakt zu halten. Während der Bus heraneilt, um die Jugendlichen für ein Jahr über 1700 Kilometer auseinanderzureißen, rücken diese, der bitteren Realität trotzend, noch einmal in Rugbymanier eng zusammen und bekräftigen mit einem tränenerstickten, kollektiven „Ich liebe Dich“ ihren Zusammenhalt.
Derlei emotionsgeladene Szenen wiederholen sich seit der Aufnahme des Austausches zwischen der nordirischen Dromore High School und der Realschule Lenningen im Jahre 2010 regelmäßig. Doch es bleibt nicht bei diesen zwei singulären Begegnungen, für die die Schulen den Rahmen geben. Mithilfe der modernen digitalen Medien respektive sozialen Netzwerken erhält sich die Kommunikation auch zwischen den Besuchsphasen, was zu hochmotivierter, ganz freiwilliger und nachhaltiger Auseinandersetzung mit der Fremdsprache führt – manchmal sogar über einen privaten Wiederholungsbesuch. „Das ist genau das was wir wollen“, befindet der nordirische Lehrer Piotr Sidor, einer der Hauptinitiatoren des ganzen Unternehmens und setzt hinzu: „Wir werden den Austausch in jedem Fall weiter fortsetzen.“
Letzteres ist dabei längst keine Selbstverständlichkeit mehr. In Dromore sind die Schülerzahlen im Fach Deutsch rückläufig. Spanisch sei leichter zu erlernen und weiter verbreitet, argumentieren viele Briten und ziehen ihren Nachwuchs ab – eine Entwicklung, der die Schulen durch alternative Angebote Rechnung tragen müssen. Das es das Unterrichtsfach Deutsch überhaupt noch in dieser Ausprägung in Dromore gibt, führt Sidor mitunter auf den Austausch mit der Realschule Lenningen zurück, der dort einen großen Reiz ausübt und hohes Ansehen genießt. Um dies selbst einmal mitzuerleben, reiste sogar der Schulleiter Ian McConaghy an den Rand der Alb. Nach fünf Tagen Schwäbischem Allerlei, bestehend aus Programmpunkten in und um Bad Urach, Ludwigsburg, Stuttgart, Lenningen und Tübingen kann der Rektor die Begeisterung teilen. „Selbst wenn die Anzahl der Deutschschüler weiter sinken sollte, werden wir dieses bereichernde Konzept aufrecht erhalten – und sei es unter einem ausschließlich kulturellen Aspekt.“
Für das Lenninger Kollegium wäre der Fortbestand des Austauschs in jedem Fall ein Gewinn. „Es ist schon seltsam“, meint die Schülerin Nele Attinger, „man spricht nach kurzer Zeit sogar die deutschen Mitschüler nur noch auf Englisch an.“ Auf ein solches Eintauchen in die Fremdsprache setzt auch die Englischlehrerin Carmen Stöferle und stellt dem Dauerprojekt ein gutes Zeugnis aus: „Die authentische Begegnung in der Fremdsprache als auch der ungezwungene Umgang mit derselben motiviert Schülerinnen und Schüler und ermöglicht Lernprozesse, die im Klassenzimmer nur schwer herbeizuführen sind.“ Um Englisch auch über den klassischen Unterricht hinaus möglichst oft ganz natürlich anwenden zu müssen, haben die Englischlehrer zahlreiche Zugänge strukturell verankert. „Neben dem Nordirlandangebot und der obligatorischen Londonfahrt in Klasse 9 konfrontieren wir die Kinder auch über Programme wie „Rent an American“ mit Muttersprachlern. Hierbei kommt ein amerikanischer Student in die Klasse, berichtet über seine Heimat und wird dann befragt – alles in reinstem Englisch. Auch über derlei Einschübe versuchen wir sprachliche, landeskundliche und interkulturelle Kompetenzen zu vertiefen,“ skizziert Alexander Tomisch, Hauptverantwortlicher des Austausches auf deutscher Seite, einige zentrale Bausteine.
Dass sich der betriebene Aufwand lohnt, zeigen unter anderem die Vergleichstests sowie die Abschlussprüfungen, bei denen die Lenninger immer wieder gut abschneiden. „Die Bedeutung der Fremdsprachen, insbesondere Englisch, kann in einer globalisierten Welt gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aus diesem Grund möchten wir den Schülerinnen und Schülern möglichst viele Gelegenheiten eröffnen, diese Lingua franca als nutzvoll sowie gewinnbringend zu erfahren und werden – wie beispielsweise mit den bilingualen Zugklassen – weitere sinnvolle Angebote in unser Schulportfolio integrieren“, erklärt die Rektorin Dunja Salzgeber.
Kaum sind die Nordiren dann auf dem Weg nach Hause, laufen die Smartphones heiß und auf die Lehrer prasseln unaufhörlich Fragen ein. Wann fliegen wir hin? Was machen wir da? Warum nur so kurz? Kein Wunder, man besucht ja nun nicht mehr irgendwen, sondern Fremde, die zu Freunden wurden.